Etwas Geschichte:
Das Fahrrad hat sich schon in anderen Krisen als der, die wir gerade erleben, bewährt. Wie, z. B. beim Erdbeben in Mexiko-Stadt im Jahr 2017. Als manche Gebiete wegen unpassierbarer Straßen nicht mehr erreichbar waren, meldeten sich viele Radfahrer freiwillig, um in den betroffenen Gebieten zu helfen, indem sie große Mengen an Wasser und Lebensmitteln dorthin transportierten.
Zur Veranschaulichung dieses historischen Durchsetzungsvermögens erinnert Frédéric Héran, Ökonom und Stadtplaner, in einem Artikel in The Conversation an einige der wichtigsten Punkte, die bereits in seinem Buch „Le retour de la bicyclette“ erwähnt wurden.
1914-18 ERSTER WELTKRIEG. Die neutralen Niederlande werden von Deutschland und dem Vereinigten Königreich isoliert. Diese Krise – die zu einem Rückgang der Importe von Fahrzeugen und Treibstoff führt – sorgt dafür, dass die Niederländer eine Fahrradindustrie und damit die „Fahrradkultur“ entwickeln, für die sie heute berühmt sind.
1929 GLOBALE FINANZKRISE. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hat, erlebt das Fahrrad einen bedeutenden Aufschwung. Die französische Fahrradflotte wächst um 30 % auf 9 Millionen Fahrräder im Jahr 1939 an.
1939-1945 ZWEITER WELTKRIEG. Lautlos und diskret kann das Fahrrad für die Versorgung der Stadtbevölkerung – und auch beim Widerstand – genutzt werden. Trotz des Mangels lernt ein jeder, sein Fahrrad – mit den vorhandenen Mitteln – immer wieder zusammenzuflicken. Leider wird das Fahrrad am Ende des Krieges mit Mangel in Verbindung gebracht, sein Image ist geschädigt. Die Nutzung des Fahrrads wird überall in Europa weniger und Autos – als Zeichen zunehmenden Wohlstandes – dringen in den öffentlichen Raum ein.
1973 DIE ERSTE ÖLKRISE offenbart die Zerbrechlichkeit einer Wirtschaft, die auf „nur Auto“ angelegt ist. “Autofreie Sonntage“ werden in mehreren europäischen Ländern organisiert, um Treibstoff zu sparen und Platz für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen.
1979 DIE ZWEITE ÖLKRISE. Kopenhagen muss seine Pläne für teure Autobahn-Umgehungsstraßen aufgeben. Durch die Finanzkrise werden die Volksvertreter dazu gedrängt, stattdessen mit dem Bau von Radwegen zu beginnen.
1995-2019 ZWEI U-BAHN-STREIKS IN PARIS zwingen die Stadtbewohner, auf das Fahrrad umzusteigen. Seine Nutzung hat sich 1995 in Paris verdreifacht und 2019 erneut verdoppelt.
2020 MIT DER CORONAKRISE beweist das Fahrrad erneut seine enormen Vorteile. Es ermöglicht den Menschen, die Distanzen einzuhalten, die notwendig sind, um die Ausbreitung des Virus zu hemmen.
Jede Krise gibt dem Fahrrad die Möglichkeit, sich aufs Neue zu beweisen – und immer aufs Neue wird es mehr genutzt: Finanzkrise? Das Fahrrad ist ökonomisch. Ölkrise? Das Fahrrad braucht keinen Treibstoff. Gesundheitskrise? Das Fahrrad ermöglicht es gleichzeitig, sich fortzubewegen und sowohl auf die eigene Sicherheit als auch auf die der anderen zu achten. Und jetzt – angesichts der ökologischen Krise, deren erste Auswirkungen sich inzwischen bemerkbar machen – sind mit dem Fahrrad erneut nicht zu leugnende Vorteile verbunden. Also, alle aufsatteln!
Quelle: “Le retour de la bicyclette”, Frédéric Héran, Éditions de la Découverte, 2015
GRACQ MAG 37 – Sommer 2020